Ein IOR Klassiker
THE RACE
7. August 2021 – Ein Tag vor dem Race
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Der Spielraum, den die CORONA-Regeln dem RORC und den Teilnehmern für das des Rennen lassen, bleibt bis zum Schluss unklar. Bis kurz vor dem Start bleibt unsicher, ob Yachten, die wegen der Einreise- und Rückkehrhindernisse nach bzw. aus UK in Cherbourg eingecheckt hatten, vor dem Rennen zur Übernachtung an einem Liegeplatz in Cowes übersetzen können. Als dies endlich bestätigt wird, beginnt am Samstag, dem 7. August die finale Phase unseres Abenteuers: Um 11:30 Uhr machen wir die Leinen in Cherbourg los und brechen zum 75 sm Törn nach Cowes auf.
Die Überfahrt vermittelt uns einen Vorgeschmack auf das, was uns am Sonntag erwartet – nur auf die kommode Tour. Denn wir rauschen bei 6 bft unter G3 und gerefftem Groß halbwinds auf Kurs N über den Channel. Je weiter wir uns von der Spitze der Halbinsel Cotentin entfernen, umso beachtlicher wird der Seegang. Heute ein großer Spaß, wenn auch anstrengend und nass – morgen haben wir das von vorn. In Cowes finden wir überraschend noch einen feinen Liegeplatz längsseits an einem Schwimmsteg des Cowes Yacht Club. Der Wind trägt den Sound der Festmeile vom Land zu uns herüber. Da ist „Big Party“. Wir widerstehen dieser Versuchung, um niemand wegen Verletzung der COVID-Auflagen in Verlegenheit zu bringen, und bleiben brav an Bord, auch um die letzte Gelegenheit zu einer ausgedehnteren Mütze Schlaf vor dem Rennen zu nutzen – das wird kein Kindergeburtstag.
Tag 1
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Der Sonntag beginnt mit grauem Himmel und Regen, im geschützten Hafen von Cowes ist es ruhig, aber das täuscht. Draußen auf dem Solent weht es mit Stärke 7, in Böen 8. Dieser Wind wird uns ins Gesicht stehen und uns der Ebbstrom mit bis zu 4 kn gegen die Welle schieben - das wird lustig. Unser Start ist auf 12:10 Uhr BST verlegt, wir machen gegen 10:00 die Leinen im Regen los – jetzt gilt‘s!
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Vor dem Hafen herrscht das erwartete Tohuwabohu. Obgleich infolge COVID 19, Brexit und mit Blick auf die aktuellen Wetterprognosen von gemeldeten rd. 530 Yachten nur 337 Boote antreten, geht es kunterbunt zu. Alle Starter müssen regattaüblich ihre Sturmbesegelung vorführen und dazu durch eines von zwei Gates segeln, erst dann folgt die Umrüstung auf die tatsächlich vorgesehene Besegelung. Alles ist in Bewegung, die Übersicht oft schwierig. Da ist die Strömung, es gibt auch noch Yachten vor Anker nahe der Startzone, der Fährverkehr zwischen Cowes und dem Festland geht munter weiter, und die große Berufsschifffahrt gibt es ja auch noch. Sobald man den geschützten Bereich am südlichen Ende der rd. 1 sm langen, etwa in N-S-Richtung verlaufenden Startlinie nach Norden verlässt, erwischt einen voll der Starkwind – keine guten Bedingungen zum Segelwechsel und für die übrigen letzten Vorbereitungen zum Start. Entsprechend eng geht’s hier im geschützteren Bereich zu.
Unser Start fällt erwartungsgemäß eher mittelmäßig aus. Angesichts unseres vorrangigen Ziels „Ankommen“ war es nie unsere Absicht, uns ohne Regattaerfahrung in das dickste Getümmel an der Linie zu drängeln und dabei frühen Bruch zu riskieren. Dennoch gelingt es uns, wenige Sekunden vor dem Start etwa in die Mitte der langen Reihe von Yachten hineinzuwenden, die bereits auf Backbordbug die Linie in unmittelbarer Erwartung des Startschusses hinuntersegeln, und so auch ohne hohes Risiko einen passablen Start hinzulegen – für den Anfang nicht schlecht.
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Es folgt eine gut dreistündige enge Kreuz im hier noch dichten Regattafeld den Solent hinunter zu den Needles, mit dem Strom, aber 30 – 35 kn AWS von vorn. Je weiter wir vorankommen, um so wilder wird es. Spätestens ab Hurst Point ist das Feld für die verbleibenden rd. 5 sm bis zur engen Passage zwischen der Shingles Bank und den Needles völlig ungeschützt gut 7 bft von vorn und Wellen ausgesetzt, die hier schon einigen Weg hatten, sich schön aufzubauen, und nun bei den Needles auf die Schwelle „The Bridge“ treffen. Dagegen laufen 3 bis 4 kn Strom – Prost Mahlzeit. Daheim in der Weser käme es uns nie in den Sinn, uns bei Windstärke 7 aus NW auf den Weg zu machen, um beim Roten Sand das zweifelhafte Vergnügen von Wind gegen Strom mit rd. 2,5 kn ablaufendem Wasser zu suchen. Wir sind hier aber nicht auf der Weser – wir sind beim FASTNET RACE!
SNIFIX DRY nimmt’s aber gelassen und erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen. Man kann nicht sagen, dass das eine ausgeprägte Sonntagssegelei war, aber die Besorgnis der Überforderung oder Überlastung des Bootes kam nie auf. Das war offenbar nicht überall so. Der RORC meldet, in den ersten 5 Stunden des Rennens seien 24 (!) Yachten mit Bruch ausgefallen oder hätten aufgegeben. Wir sind bis zum Ende des Rennens beeindruckt und haben höchsten Respekt vor jenen, die hier mit modernen leichten 10m-Yachten unterwegs waren und teils sogar deutlich schneller, als wir mit unserem Schwerwetterklassiker.
Über Nacht geht es lebhaft weiter, die Wellen werden aber länger. Der Wind bleibt konstant, und es kommen noch heftige Regenschauer dazu – ein Segeltraum erster Güte. Nach rd. 12 Stunden ist unser Boot an Normalmaßstäben gemessen unbewohnbar. Hier ist aber nicht normal – wir sind beim FASTNET RACE! Der Begriff „trocken“ wird bei uns neu definiert und gilt jetzt für alles, was man nicht auswringen kann.
Taktisch folgt auf die Needles eine spannende Phase, denn es gilt abzuwägen, ob man die Landspitze Portland Bill noch rechtzeitig mit dem ablaufenden Wasser erreichen und dann dort von der Strömung profitieren kann, oder besser früh deutlich Abstand hält. Für uns ist klar, dass unsere Geschwindigkeit nicht ausreicht, Portland rechtzeitig zu erreichen, und wir machen wie der größte Teil der IRC 4-Flotte den Schlag auf den Channel hinaus. Die Frage lautet nur, wie weit ist richtig? Diese Passagen machen Revierkenntnis und Erfahrung beim FASTNET so unersetzlich. Es überrascht daher nicht, dass wir bei Analyse nach dem Rennen feststellen, dass unser Kurs nicht optimal war, aber wir verlieren auch nicht entscheidend an Boden.
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Im Verlauf der Nacht nimmt der Wind dann etwas ab, auch die Wolken werden weniger, und am Vormittag reißt der Himmel ganz auf. Es wird ein toller sonniger Segeltag mit rd. 5 bft, später abnehmend. Jetzt geht es auf die Landspitze Start Point zu und wieder sind alle vor die Frage gestellt, wie tief man wohl am besten in die Bucht davor fährt. Wir entscheiden uns für einen Kurs tief in die Bucht und am späteren Vormittag mit weiter abnehmendem Wind für den Wechsel auf unsere großartige G2. Leider dauert das Manöver länger als üblich, da das Fall im Masttopp verklemmt. Es dauert wohl 15 Min. bis wir das klarieren können - Mist. Später fällt uns auf, dass zwei Yachten kurz vor Start Point sehr nah unter Land auffällig besser Fahrt nach S machen, als jene weiter von der Küste entfernt segelnden – also nix wie hinterher. Auf dem AIS beobachten wir einige Referenzyachten und können nach Passieren von Start Point befriedigt feststellen, dass sich diese Variante ausgezahlt hat – wir haben etwas gewonnen und unsere taktische Rechnung ist hier aufgegangen. Die jetzt traumhaften Segelbedingungen erlauben uns auch, Luken und Doraden zu öffnen, der Trocknungsprozess unter Deck kommt voran.
Tag 2
Nächstes wichtiges Ziel ist jetzt Lizard Point. Das Feld kreuzt vor der Küste Cornwalls in die Falmouth Bay, erneut mit der Frage konfrontiert, wie tief und weit unter Land sinnvoll ist. Wir kommen auf unserer nördlichen Route ganz gut voran, viele Yachten wählen diese Option. Dennoch zeigt eine nachträgliche Analyse, dass jene, insbesondere z.B. WINSOME, die weiter draußen geblieben sind und erst relativ spät dicht unter Land gingen, besser um Lizard Point herumkommen und auf diesem Abschnitt entscheidende Punkte machen.
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Unser Feld kreuzt mit kontinuierlich abnehmendem Wind in die zweite Nacht dieses Rennens und wird am frühen Morgen des dritten Tages ganz knapp östlich von Lizard Point von einer totalen Flaute erwischt. Zuerst treten wir nur noch auf der Stelle, dann treibt der einsetzende Flutstrom uns sogar zurück. Es ist eine unwirkliche Situation: Lange konnten wir das Licht des Turms von Lizard sehen, eine tolle sternenklare Nacht, leises aufmerksames Segeln. Dann zieht im Morgengrauen ein Seenebel auf, die Welt versinkt in Watte, der Wind erstirbt. Yachten, die wir eben noch in Sichtweite hatten, verschwinden zuerst schemenhaft hinter dem Nebelschleier, dann sind sie ganz weg. Von fern hören wir jetzt das Nebelhorn vom Turm. Wir beschließen, besser zu ankern als Strecke zu opfern. Dazu stecken wir den Kettenvorläufer, die Ankerleine und zwei Spischoten zusammen und bringen das Eisen so bei rd. 52 m Wassertiefe auf den Grund. Das hält uns nicht ganz, auch wir driften weiter mit rd. 0,3 kn in die falsche Richtung – die Yachten um uns herum aber deutlich stärker. Es ist wie mitunter in der Politik: Man macht durch Nichtstun Plätze gut. Dabei sind wir allerdings nicht völlig untätig. Wir nutzen die Flaute zu einer kleinen Reparatur am Masttopp. Und wir können alle Luken aufmachen und unter Deck so was ähnliches wie klar Schiff herstellen. Außerdem ist die Pantry wieder geöffnet, es gibt lecker Roasted Porridge mit Äpfeln zum Frühstück, sogar ein kurzes Bad im Meer ist drin. Die Pause tut allen gut und schadet unserer Platzierung nicht. Für Unterhaltung sorgen immer wieder Delfine, die die Szenerie auch mit Interesse verfolgen.
Dann setzt ein Windhauch ein, wir klarieren zum Ankerlichten. Der Wind schiebt aber auch den Nebelvorhang zur Seite und gibt den Blick in strahlendem wolkenlosen Sonnenlicht auf Lizard Point frei − eine großartige Szenerie, die Stimmung an Bord ist bestens. Jetzt gilt es mit leichtem Wind wieder Fahrt zu machen. Im Vergleich zu moderneren leichteren Yachten nicht gerade die Paradedisziplin unserer SNIFIX DRY, zumal wir ohne unsere große Genua vermessen haben. Die neue G2 – etwas größer als unsere alte G2 und besser profiliert als die G1 – macht ihre Sache aber gut. Wir können ganz ordentlich mithalten. Als wir Land’s End erreichen, kommt uns in rd. 10 sm Entfernung nach nur rd. 1 Tag und 21 Stunden unter majestätischer Besegelung die SKORPIOS entgegen. Sie ist mit über 13 kn SOG unterwegs und hat nur noch rd. 130 sm vorm Bug, für sie ist der Drops also in rd. 10 Stunden gelutscht − stark.
Tag 3
Bei uns sieht das anders aus. Der Wind bleibt den ganzen Tag über schwach, der Weg nach Land’s End zieht sich. Aufgrund der Tidenverhältnisse kommt für unser Feld nur die Route östlich und dann nördlich um das TSS Off Land’s End herum in Frage. So nehmen wir den mitlaufenden Strom mit, treiben aber mitunter mehr, als dass wir segeln. Trotz des nördlichen Kurses können wir nicht Spinnakern. Einige Boote wählen einen spitzen Gennakerkurs, müssen dafür aber einen Leebogen fahren. Wir halten in Schleichfahrt am Wind mit einem Vorhaltewinkel von teilweise 60 Grad direkt auf den Wegepunkt am Nordostende des TSS zu. Am frühen Abend kommt wieder etwas Wind auf und mehr Fahrt ins Schiff. Die Geschichte geht aus wie das Horneberger Schießen: Am Waypoint sind fast alle wieder nah beisammen, egal ob sie mit oder ohne Gennaker unterwegs waren.
Es folgt die lange Gerade von gut 150 sm mit nordwestlichem Kurs über die Keltische See zum Rock – allein das TSS Fastnet Rock ist noch zu beachten. Da müssen wir auf die Nordostecke zuhalten und die an Backbord lassen, dann geht’s die letzten 5 sm auf Westkurs zum Sehnsuchtsort, dem FASTNET ROCK!
Der Wind stabilisiert sich um WSW 4, später zunehmend, und erlaubt eine schnelle unproblematische Reise am Wind auf Kompasskurs zum Wegepunkt. Wir haben einige Yachten in Sicht und weitere auf dem AIS zum benchmarken und können unsere Position nach und nach etwas verbessern. Die Bedingungen liegen SNIFIX und den neuen Segeln. Gegen die REINDEER in Sichtweite fahren wir aber über 100 sm ein totes Rennen. Sie kann uns nicht enteilen, SNIFIX sie aber auch nicht einholen. Interessant der Kurs der großen DANTÉS aus Hamburg, einer herrschaftlichen SWAN 48 mit Fastneterfahrung. Sie segelt am späten Abend unseres dritten Regattatages etwas höher am Wind, d.h. nicht auf direktem Wege zum Wegepunkt, aber mit etwas höherer Geschwindigkeit zwischen der REINDEER und uns hindurch. Was hat sie vor?
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Tag 4
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Nach rd. 100 sm ändert sich das Bild. Der Wind hat wieder zugelegt. Wir fahren stark gerefft, aber unverändert mit der G2 auf Steuerbordbug auf Kurs, als der Wind binnen weniger Minuten mächtig nach rechts dreht. Wir nutzen den Dreher zur Wende auf Backbordbug und entschließen uns in Erwartung eines angekündigten Rückdrehers zu einem langen Schlag auf dieser Seite Richtung SW. Das wird spannend, denn wir entfernen uns weit von unseren bisherigen Begleitern. Sie verschwinden von unserem AIS, wir können nicht mehr verfolgen, wie es da läuft, und nachdem wir wieder auf Steuerbordbug gehen ist es ein Gefühl wie vor der Bescherung zu Weihnachten, wann die anderen wohl wieder auf dem Schirm erscheinen und ob wir dann mit unserem Sonderweg wie Gewinner oder Looser dastehen. Kurz befürchten wir, unnütze Überhöhe aufgebaut zu haben, da wir recht voll auf den Wegepunkt zuhalten können, und es steigt die Besorgnis, wir würden für unseren Mut, uns vom Feld zu entfernen, bestraft. Am Wegepunkt stellt sich aber heraus, dass wir rd. 3,5 sm auf REINDEER gewonnen haben, die DANTÉS liegt noch weiter achteraus.
Jetzt also auf Kurs zum Rock. Wir haben eine Szenerie, wie im Katalog (und exakt so, wie auf der diesjährigen Promotion-Photowand vom ROLEX FASTNET RACE in Cherbourg): Unter blauem Himmel segeln wir hoch am Wind in güldenem Licht dem Sonnenuntergang und dem Rock entgegen. Euphorie macht sich breit. Am 11. August um 21:24:20 BST, drei Tage, neun Stunden und 14 Minuten nach dem Start, peilen wir den FASTNET ROCK in 180 Grad – geschafft! Es ploppt ein Korken aus einer größeren Flasche französischen Ursprungs, dank unseres Energiemanagements auch noch in passender Temperatur. Wir können sogar mit Gläsern anstoßen, denn die waren (in optimistischer Voraussicht) vor dem Rennen nicht sämtlich ausgeräumt worden.
Jetzt sind es „nur“ noch rd. 330 sm zum Ziel. Die Bedingungen sind aber andere, als auf dem Hinweg. Bald stellt sich ein konstanter WSW um 20 kn ein. Wir rauschen halbwinds dahin, der Himmel wolkenlos, lange Wellen schieben uns an, das Boot drängt nach vorn, will aber mit Kraft auf Spur gehalten werden - Bilderbuchsegeln. Es ist aber weiterhin navigatorische Obacht und auch solche des Steuermanns gefragt, denn da ist noch der Wegepunkt am Südwestende des TSS Fastnet Rock – der muss an Backbord bleiben.
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Tag 5
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Wir wissen nicht, ob es eine Folge des Fastnet-Champagners war, oder es vielleicht an einer zu weit herausgezoomten Plottereinstellung liegt, bei der etwas Präzision bei der Ansteuerung verloren geht, jedenfalls ist sich niemand eines Fehlers bewusst, als wir bereits nahe bei den Islands of Scilly von unseren Followern an Land eine besorgte SMS empfangen, wir hätten nach dem Rock minimal das Sperrgebiet touchiert und uns eine Zeitstrafe eingefangen. Irritation an Bord macht sich breit. Wir kontrollieren unseren Wegepunkt und sind uns keiner Schuld bewusst, schieben das aber beiseite und freuen uns an der phantastischen Segelei. Auch im Verhältnis zu den übrigen Yachten in unserem Feld läuft es ordentlich. Die XARA allerdings kann schon spinnakern und macht langsam Boden gut, allerdings weit in Lee, d.h. nördlich von uns, wie auch einige andere Yachten. Wir fragen uns, wie die es mit der Verbotszone im Radius von 8 sm um den Leuchtturm Peninnis Head auf den Isles of Scilly halten wollen. Und es gibt da noch eine kleine Herausforderung. Im Süden schließt sich nämlich in kurzer Distanz das TSS South of the Scilly Isles an, da dürfen wir auch nicht hin – die Regatta führt hier praktisch durch einen Briefschlitz. Durch den Vorfall nach der Rundung des Rocks gewarnt, checken wir noch einmal unseren Wegepunkt, fügen einen weiteren zur Sicherheit hinzu, und erreichen so regelgerecht den relevanten Wegepunkt an der Nordostspitze des zu vermeidenden TSS.
Hier wartet die nächste taktische Entscheidung auf uns: Nördlich oder südlich um das letzte Sperrgebiet vor dem Ziel, das TSS Casquets nördlich Alderneys, herum? Die klassische weil rd. 10 sm kürzere Route führt südlich dieses TSS entlang. Das löst dann die Folgefrage aus, ob man nördlich an Alderney vorbei direkt auf das Cap de la Hague zielt, oder bei geeigneter Tidenkonstellation den (längeren) Weg südlich um Alderney herum wählt, um dann mit extrem starker Strömung (bis zu rd. 10 kn!) zum Cap de la Hague „gespült“ zu werden. Unsere aktuellen Wetterdaten legen uns aber den Weg nördlich um Casquets herum nahe, da der Wind unter der britischen Küste länger anhalten soll. Das Programm verspricht uns auf dieser Route einen Zeitvorteil von rd. 1:30 Std., und wir haben keine besseren Kenntnisse oder Erfahrungen, nach denen es eine rationale Entscheidung wäre, diese Empfehlung unseres digitalen Wetter- und Navigationsexperten zu ignorieren.
Also fallen wir etwas ab und setzen unseren nächsten Wegepunkt an der Nordostecke der Casquets. Damit ist uns jetzt auch ein Spinnakerkurs möglich – wollen wir den aber wagen? Es bläst weiterhin mit fröhlichen gut 20 kn true, die Welle beachtlich, SNIFIX ist schon unter G2 sehr flott unterwegs. Die versammelte Mannschaft hat keine gemeinsame Spinnakerpraxis, einige kaum Spierfahrung bei 5 bft und Seegang, und es geht in die Nacht hinein – nicht gerade Trainingsbedingungen für Spi-Novizen. So völlig ohne Ehrgeiz, wie wir hier unterwegs sind, wollen wir aber nichts verschenken, und nach einigem instruierenden Palaver geht rd. 9 Stunden nach Beginn unseres fünften Regattatages im späten Licht kurz vor Sonnenuntergang der Spi hoch. Und da er gerade im Sack lag, ist es der große, mit unserem kleineren „Spi schwer“ halten wir uns nicht lange auf. Da Erhard und der Verfasser die einzigen an Bord sind, die mit solchen Bedingungen Erfahrung haben, entscheiden wir uns zu einem zweistündigen Steuermannswechsel. Alle bleiben in ihrer Freiwache in voller Montur, um ggf. sofort an Deck sein zu können, und der Ritt beginnt. So geht es in die 5. Nacht auf See. Es sind tolle Bedingungen. Um unseren Wegepunkt zu erreichen, müssen wir einen AWA von rd. 150 Grad abspulen, ein super Spikurs, allerdings mit bis zu 24 kn true Wind mitunter an der Grenze dessen, was wir halten können. Und wehe das Boot wird dann durch eine Welle nach Luv gedrängt, dann ist der Sonnenschuss nicht mehr zu vermeiden. Die von Willie initiierte Ruderblattverlängerung und –optimierung zahlt sich aber besonders jetzt aus, SNIFIX lässt sich deutlich besser bändigen als früher. Auf der Leeseite ist auch nicht viel Platz, bis der Spi einzufallen droht. Außerdem würde uns ein nachhaltig zu tiefer Kurs Strecke kosten und uns später zum Anluven auf den Wegepunkt zwingen – bei den Bedingungen schwierig bis gefährlich. Die beiden Steuerleute sind jetzt gefordert, SNIFIX DRY im engen Korridor, der sie unbeschadet und schnell zum Ziel führt, zu halten.
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Tag 5 1/2
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Das klappt aber, wir fliegen unter Spinnaker durch die Nacht und erst am Freitagnachmittag gegen 17:00 Uhr, d.h. nach über 20 Stunden vollkonzentrierter Spinnakerei, bergen wir unseren großen Spi, da wir die nun nach Passieren unseres Wegepunktes erforderliche Höhe nicht mehr halten können.
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Jetzt wird es wieder spannend, hat sich unsere Extratour gelohnt? Auf dem AIS konnten wir nur beobachten, wie unsere „Mitreisenden“ nach und nach vom Bildschirm verschwanden, da sie die südliche Route gewählt hatten. Wann sehen wir sie wieder, und wo? Da es bisher super lief, sind wir optimistisch, dass wir den von unseren Grib-Files versprochenen Zeitvorteil tatsächlich herausfahren konnten und es werden Rechnungen aufgemacht, wonach wir vielleicht gg. 21:00 Uhr das Ziel erreichen können. Aber abgerechnet wird bekanntlich zum Schluss. Im weiteren Verlauf des Nachmittags lässt der Wind nach und erstirbt schließlich fast vollständig (das stand nicht in unserer Prognose …). Gleichzeitig nähern wir uns dem Kentern des Stroms. Bald kriegen jene, die unten rum sind und bisher vom Ebbstrom aufgehalten wurden, Oberwasser, und das Spiel läuft gegen uns. Wegen unserer geringen Geschwindigkeit werden wir durch den noch andauernden Ebbstrom weiter nach Westen getragen, als geplant. Es erfordert starke Nerven und die Klugheit unseres Navigators Willie, nach Kentern des Stroms nicht verkrampft aber erfolglos südlich aufs Ziel zuzuhalten, sondern uns auf abgefallenem Kurs mit mehr Fahrt durchs Wasser vom Strom nach Osten mitnehmen zu lassen in der Hoffnung, davon zu profitieren, dass der östlich des Cap de la Hague nach und nach rechts dreht und uns einen Weg zum Ziel ermöglicht, sobald es wieder Wind gibt. Derweil können wir auf dem AIS beobachten, dass für REINDEER und XARA deren Strategie aufgeht. Sie kommen rechtzeitig ums Eck beim Cap de la Hague und gehen vor uns durchs Ziel. Andere unseres früheren Feldes schaffen das aber nicht, und insofern haben wir durch unsere Taktik zumindest gegenüber einigen einen Vorteil herausgefahren.
Der Sack ist aber noch nicht zu und die Ernte noch nicht in der Scheuer: Zwar legt der Wind auf den letzten 10 sm zum Ziel wieder zu, teils sind wir wieder mit 8-9 kn üG im Spiel, mit zunehmender Annäherung an die Ziellinie nimmt er aber wieder ab und die letzten 2 sm dieses Rennens werden die vielleicht längsten unseres Lebens. Wir kriechen nur noch dahin, vorwiegend vom nur noch schwachen Flutstrom getragen, und es ist jetzt kurz vor Hochwasser Cherbourg um 01:56 Uhr Ortszeit. Schaffen wir es bis dahin nicht über die Linie, befinden wir uns in akuter Gefahr, vom bald einsetzenden Ebbstrom in der Flaute wehrlos wieder rausgelutscht zu werden. Immerhin sind wir jetzt in einem Bereich, wo wir ankern und auf bessere Zeiten warten könnten – aber wer will das 2 sm vorm Ziel??
Es gibt aber ein happy end: Am 14. August m 02:17:46 Uhr Ortszeit, 5 Tage und 13:07:46 Stunden nach dem Start, sind wir im Ziel! Korrigiert um unseren IRC-Faktor 1.002 ergibt sich eine berechnete Zeit von 5 Tagen 13:22:58.
Es kann also gut gehen, wenn sich ein paar spleenige ältere Herren mal den FASTNET ROCK gönnen wollen, und zwar sehr gut. Wir haben das Ziel erreicht und hatten keine Verletzungen an Bord. Allerdings gab’s gravierende Materialschäden: Es gingen ein Kaffeepott und ein Brillenbügel zu Bruch.
Und haben solche Greenhorns wie wir auch hinsichtlich des Ergebnisses eine Chance? Wir meinen ja und sind mit unserem Resultat sehr glücklich. Die Öffnung der Tipps, die wir vor dem Rennen abgegeben haben, bestätigt: Bis auf einen von uns haben alle deutlich schlechtere Platzierungen getippt, unsere Erwartungen wurden in jeder Beziehung übertroffen. Wir landen schließlich nach IRC all und nach unserer Zeitstrafe von 10% auf Platz 170 von 181 gewerteten Yachten im Ziel – haben damit aber auch 88 weitere geschlagen, die das Ziel gar nicht erreicht haben (darunter auch viele größere Yachten als SNIFIX). Das ergibt also in der Wertung "IRC all" Platz 170 von 269. In unserer Gruppe IRC 4 erreichen wir Platz 46 von 70 gestarteten Yachten. Vor Verrechnung der Penalty, d.h. auf die reine IRC-korrigierte Segelzeit bezogen (5 Tage 13:22:58), ergibt sich für unsere sportliche Leistung Platz 136/269 bei "IRC all" bzw. sogar Platz 31/70 in der Gruppe IRC 4 – not too bad für eine Crew von Regattaanfängern ohne Reviererfahrung, die einfach mal etwas Spaß haben wollten.
“I think all of us in offshore sailing ask ourselves why we commit to this ridiculous sport where you get mostly cold and wet, and 90 per cent of the time you wish you weren’t there.“
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“But then you get glimmers of complete elation, adrenaline and an experience that is just unmatchable. There's no greater sense of achievement. When you get everything in the right place, with the right people, in the right conditions.“
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(Thomas Kneen - Overall winner of the 49th Rolex FASTNET Race, 2021)